Es gibt Tabellen, die mehr erzählen als Zahlen. Das aktuelle CIES-Ranking der 100 besten Fussballakademien der Welt ist eine solche. Es misst, wer am meisten aktive Profispieler ausgebildet hat – und verrät damit etwas Grundsätzlicheres: wo Fussball als Lebensform verstanden wird und wo er zur Funktion verkommen ist.
Europa und Südamerika dominieren die Liste fast vollständig. 50 Akademien stammen aus Europa, 45 aus Südamerika. Doch zwischen diesen Kontinenten verläuft ein unsichtbarer Graben: Er trennt jene Regionen, in denen Fussball Kultur ist, von jenen, in denen er Industrie geworden ist.
Strukturen der Reproduktion
Die Ausbildung von Spielern ist, sportsoziologisch betrachtet, ein System sozialer Reproduktion – Sie folgt dem, was Pierre Bourdieu als «Habitus-Transfer» beschreibt: das unbewusste Weitergeben von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern innerhalb sozialer Felder. Fussballer entstehen also dort, wo das Spiel bereits kulturell verankert ist – wo Kinder das Verhalten der Erwachsenen nicht erklärt, sondern verkörpert lernen.
An der Spitze thront Portugal. Benfica Lissabon (Rang 1) und Sporting (Rang 6) bilden die doppelte Speerspitze europäischer Talentförderung. Ihr Modell ist hybrid: die methodische Präzision der Elite, verbunden mit der Strassenkultur Lissabons, wo jedes Kind weiss, dass Ballgefühl eine Überlebensstrategie sein kann. Die portugiesischen Akademien von Benfica und Sporting repräsentieren den europäischen Idealtypus: sie verbinden kognitive Trainingsmodelle (Game Intelligence, Perceptual Training) mit ökonomischer Rationalität (Talent als Kapitalform). Das erklärt, warum Portugal mit zwei Clubs in den Top 10 führend ist: Sie haben die kulturelle Emotion des Südens in den methodischen Rahmen des Nordens überführt – ein beispielloser Wert für ein Land mit nur rund zehn Millionen Einwohnern. Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines systemischen, langfristigen Aufbaus, der in den 1990er-Jahren begann. In dieser Dekade professionalisierten sich die Topklubs in ihrer Jugendarbeit, wobei Sporting Lissabon eine Pionierrolle einnahm. Das berühmte Academia Sporting Alcochete (heute: Academia Cristiano Ronaldo – Sporting CP) wurde 2002 eröffnet – eine der ersten voll integrierten Ausbildungszentren Europas. Hier wurden Cristiano Ronaldo, Luís Figo und João Moutinho sozialisiert.

Quelle: Academia Sporting – Centro de Futebol do Sporting Clube de Portugal – Universo Sporting – FórumSCP
Das portugiesische System kombiniert technisch-individuelle Ausbildung mit taktisch-kollektiver Intelligenz – eine Synthese aus südlicher Spielfreude und nördlicher Strukturlogik. Trainer wie Vítor Frade (der geistige Vater des «Tactical Periodization“) oder Jorge Castelo haben die portugiesische Trainingswissenschaft geprägt.
Zentral ist die Idee, dass jedes Training das Spiel repräsentieren muss – kein Konditionstraining ohne Ball, keine Übung ohne taktischen Kontext.
Dieses Konzept wurde später durch José Mourinho internationalisiert und bildet heute den methodischen Kern der portugiesischen Schule:
Man trainiert keine Fähigkeiten, man trainiert das Denken im Spiel.
Vítor Frade
In der Praxis bedeutet das: hohe kognitive Belastung, wechselnde Spielsituationen, kleine Gruppen, variable Räume, permanente Entscheidungsfindung.
Der Spieler wird nicht als Ausführender, sondern als taktischer Organismus betrachtet. Portugal hat im Gegensatz zu Mitteleuropa eine emotionale Trainingskultur, in der Trainer Nähe und Autorität kombinieren. Die Beziehung ist persönlich, fast familiär, aber fordernd. In Studien wird das als high challenge – high support environment beschrieben: hoher Anspruch, aber ebenso hohe Zugehörigkeit. Das Resultat sind Spieler, die taktisch geschult, emotional stabil und sozial eingebettet sind – eine seltene Kombination.
In Spanien – mit dem FC Barcelona (2) und Real Madrid (9) – hat sich ein kulturelles Narrativ entwickelt, das Technik und Denken gleichsetzt. Wer Fussball denkt, spielt ihn besser. Das Kind wird früh in eine spielphilosophische Grammatik eingeführt – posición, pausa, percepción, pase – die vier P’s der spanischen Spielsprache. Spieler lernen, das Spiel als Raum-Zeit-System zu lesen, bevor sie es physisch dominieren. Das spanische Modell basiert stark auf der Idee der situativen Intelligenz: Trainingsformen sind offen, entscheidungsbasiert, unendlich wiederholbar, aber nie identisch. Das Ziel ist nicht das richtige Verhalten, sondern die Fähigkeit, das passende zu finden. Oder wie es Albert Capellas formulierte:
Wir trainieren nicht Automatismen, sondern Wahrnehmung. Wer wahrnimmt, kann improvisieren.
Die Niederlande und Belgien sind das Paradebeispiel für funktionale Komplexität im kleinen Massstab. Trotz begrenzter Bevölkerung haben sie eine hohe Akademiedichte und klare methodische Kohärenz. Ihre Systeme sind schlank, kompetent, und ihr Training zielt auf Transferfähigkeit – nicht auf Doktrin.
In den Niederlanden wiederum entstand mit Ajax, PSV und AZ Alkmaar eine Ausbildungsarchitektur, die Bourdieus Theorie der Felder nahezu empirisch bestätigt: ein autonomes, sich selbst reproduzierendes System, das Werte, Verhalten und Stil über Generationen stabil hält. Rinus Michels’ «Totaalvoetbal“ war weniger eine taktische Revolution als eine kulturelle: das Kind als denkender Akteur, der Raum als dynamischer Organismus.
Das niederländisch-belgische Modell folgt dem Prinzip der «non-linear pedagogy». Spieler lernen über Variation, nicht Wiederholung. Lernen entsteht nicht durch starre Instruktion, sondern durch wechselnde, kontextreiche Spielformen, die Wahrnehmung und Entscheidung permanent koppeln. Das erklärt, warum niederländische Akademien überproportional viele transfersichere Spieler produzieren – Profis, die sich in unterschiedlichen Kontexten anpassen können, weil sie gelernt haben, Strukturen zu erkennen, statt sie zu befolgen.
Belgien wiederum – insbesondere Anderlecht, Genk und Brügge – hat diesen Ansatz in den letzten zwanzig Jahren radikal modernisiert. Nach dem sportlichen Niedergang Anfang der 2000er reagierte der Verband mit dem Plan Horizon 2000, einem nationalen Entwicklungsmodell, das technische Qualität, psychologische Belastbarkeit und Spielintelligenz systematisch verknüpft: eine einheitliche Ausbildungsphilosophie in allen Eliteklubs, stärkerer Fokus auf Technik und Entscheidungsfindung, mehr Individualtraining im Grundschulalter, Integration sportpsychologischer Begleitung, verpflichtende Trainerlizenzen für Nachwuchsbereiche und enge Kooperation zwischen Verband und Klubs.
Belgien ist damit das Paradebeispiel eines kleinen Landes, das über Systemkohärenz gross geworden ist. Die Niederlande und Belgien strukturieren Talententwicklung als ein geschlossenes System, in dem Methodik, Trainerbildung und Transferlogik ineinandergreifen. Das Resultat sind Spieler, die taktisch hochintelligent, aber zugleich systemtreu sind.
Spanien dagegen verkörpert einen anderen Ansatz: Fussball als Sprache, nicht als System. Die Ausbildung in den NLZ’s von Barcelona, Real Sociedad, Real Madrid oder Athletic Bilbao basiert weniger auf Positionsdogmatik als auf kognitiver Schulung. Kinder lernen, das Spiel zu lesen – über Wahrnehmung, Rhythmus und Timing. Trainiert wird das Denken im Spiel, nicht die Bewegung an sich.
Die spanische Schule stellt den Spieler als sensorisch-intelligentes Wesen in den Mittelpunkt. Er soll die Struktur des Spiels erfassen, nicht die Vorgabe des Trainers erfüllen. «Wir trainieren keine Automatismen, sondern Bewusstsein“, formulierte Albert Capellas, ehemaliger Jugendtrainer des FC Barcelona. Damit verschiebt sich der Fokus von der Reaktion zur Interpretation – vom richtigen Verhalten zur richtigen Entscheidung im Moment. Das Ergebnis sind Spieler, die das Spiel nicht nur ausführen, sondern fühlen.
Während Spanien auf Wahrnehmung und Spielsprache setzt, kultivieren die Niederlande und Belgien Ordnung und Struktur. Die einen bilden Interpretierer, die anderen Architekten des Spiels. In der Summe jedoch zeigen beide Modelle, dass erfolgreiche Talententwicklung nur dort möglich ist, wo Intelligenz als zentrales Lernziel verstanden wird – ob sie nun aus Intuition oder System entsteht.

Während Südeuropa und die Benelux-Staaten in der Talententwicklung durch methodische Kohärenz und kulturelle Stabilität überzeugen, stellt Frankreich ein besonderes Modell dar – eines, das Systemintelligenz und Kreativität auf einzigartige Weise vereint. Frankreich ist mit gleich mehreren Akademien im Ranking der besten 100 Ausbildungsstätten der Welt vertreten und bestätigt damit seine Rolle als eines der produktivsten Ausbildungsökosysteme Europas. Mit Paris Saint-Germain (19.), Olympique Lyon (34.), Stade Rennais (44.), AS Monaco (78.) und Le Havre (100.) präsentiert sich eine Dichte, die selbst für eine Fussballnation dieser Grösse bemerkenswert ist.
Frankreich hat es geschafft, eine nationale Ausbildungsarchitektur zu schaffen, die zugleich zentral gesteuert und dezentral gedacht ist. Seit der Gründung des INF Clairefontaine im Jahr 1988 dient das Land als Referenzpunkt für strategisch organisierte Talentförderung. Heute bilden mehr als 15 nationale Ausbildungszentren – die sogenannten Pôles Espoirs – ein Netzwerk, das Talente im Alter von 13 bis 15 Jahren aufnimmt, schulisch integriert und technisch, taktisch sowie sozial fördert.
Dieses System folgt einer klaren Logik: frühe Erkennung, aber spätere Selektion. Kinder bleiben möglichst lange in ihrem regionalen Umfeld, bevor sie den Sprung in die grösseren Akademien wagen. Die Verbindung von Schule, Familie und Training wird als Entwicklungsressource begriffen, nicht als Hindernis. So gelingt es, die soziale Verwurzelung zu bewahren und gleichzeitig eine hohe Ausbildungsqualität zu garantieren.
Das Resultat ist messbar. Laut dem CIES Football Observatory stammen weltweit mehr als 1.800 aktive Profis aus französischen Akademien – mehr als aus jeder anderen europäischen Nation. Klubs wie Lyon, Rennes, Le Havre, Nantes oder PSG produzieren kontinuierlich Spieler, die sowohl im Inland als auch in den grossen Ligen Europas bestehen.
Bemerkenswert ist dabei die Kombination aus Struktur und Offenheit. Die Fédération Française de Football (FFF) definiert den Rahmen – Trainerstandards, Schulmodelle, pädagogische Grundsätze –, lässt den Vereinen aber ausreichend Raum zur Interpretation. So bleibt das System kohärent, ohne dogmatisch zu werden.
Darüber hinaus hat Frankreich früh erkannt, dass Vielfalt eine Quelle der Innovation ist. Zwischen 50 und 60 Prozent der Spieler in den Jugendnationalteams stammen aus Familien mit Migrationshintergrund. Statt diese Heterogenität zu nivellieren, wurde sie integriert – als Motor für Spielintelligenz, Improvisation und Anpassungsfähigkeit.
Diese kulturelle und physische Diversität hat den französischen Fussball entscheidend geprägt. Viele Spieler bringen aus ihren familiären oder kulturellen Hintergründen eine andere Form von Körperbewusstsein, Rhythmusgefühl und Spielintensität mit, die im französischen System nicht unterdrückt, sondern bewusst gefördert wird. So entstand eine Generation, die Physis und Technik, Struktur und Instinkt zu verbinden weiss – eine Balance, die Frankreichs Spielweise seit Jahren prägt.
Das französische Modell ruht auf drei zentralen Säulen:
- Technische Variabilität – frühes Lernen unter Entscheidungsdruck, keine Spezialisierung vor dem 15. Lebensjahr.
- Kognitive Schulung – Förderung von Wahrnehmung, Antizipation und taktischem Verständnis in Spielformen.
- Mentale Resilienz – Erziehung zu Eigenverantwortung, Disziplin und sozialer Stabilität.
Physis ist somit kein Eintrittskriterium, sondern ein Werkzeug. Das erklärt, warum Spieler wie Raphael Varane, Paul Pogba, Ousmane Dembéle, Kingsley Coman, Benzema, Thierry Henry, Mbappé, Kanté oder Camavinga ihre Dynamik nie vom System, sondern aus dem Verständnis des Spiels selbst beziehen.
Frankreich beweist, dass System, Athletik und Kreativität keine Gegensätze sein müssen. Es zeigt, dass eine nationale Ausbildungsstruktur funktionieren kann, wenn sie Vielfalt nicht verwaltet, sondern kultiviert – und wenn sie das Denken im Spiel als eigentliche Form der Intelligenz begreift.

Der Balkan – Wo Widerstand zum Talent wird
Die Nachwuchsausbildung auf dem Balkan ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis historischer, politischer und kultureller Strukturen. In den südosteuropäischen Ländern hat sich über Jahrzehnte eine Form des Trainings etabliert, die durch Disziplin, autoritäre Führungsstile und ökonomischen Druck geprägt wurde. Während Westeuropa die Ausbildung pädagogisierte, blieb sie hier hierarchisch und leistungsgesteuert.
In den sozialistischen Bildungssystemen der ehemaligen Sowjetunion stand Leistung über Individualität. Diese Logik hat sich auch in den Fussballschulen ex-jugoslawischer Länder erhalten: Disziplin, Gehorsam und Wiederholung sind bis heute zentrale Werte. Trainer gelten als Autoritäten, nicht als Moderatoren. Der Ton ist direkt, das Feedback hart, der Alltag fordernd. Doch gerade diese Struktur, so archaisch sie erscheinen mag, hat eine funktionale Seite. Sie produziert Spieler, die früh lernen, mit Druck, Ablehnung und Wettbewerb umzugehen.
Dinamo Zagreb steht heute an der Spitze dieses Systems. Keine Akademie in Südosteuropa hat in den letzten zwei Jahrzehnten mehr Erstligaspieler, Nationalspieler und internationale Transfers hervorgebracht. Zwischen 2015 bis 2024 haben sie knapp 255 Millionen Euro an Transfererlöse erzielt, hauptsächlich durch hauseigene Spieler. Ihr Modell ist einzigartig, weil es das traditionelle Disziplinprinzip mit moderner Trainingswissenschaft verbindet. Der Klub gilt als Inkubator für Resilienz: begrenzte Ressourcen, aber ein präzises System. Die Akademie selektioniert rigoros, fördert gezielt und verlangt von jedem Spieler höchste Anpassungsfähigkeit. Technik wird nicht isoliert trainiert, sondern unter physischem und psychischem Druck – ein Prinzip, das der modernen Trainingswissenschaft nahekommt. Die Idee entspricht der sogenannten ecological dynamics: Lernen entsteht durch reale, variable und unvorhersehbare Umwelteinflüsse. Was andernorts als Defizit gilt – unebene Plätze, wechselnde Bedingungen, fehlende Infrastruktur – wird hier zum Lernfaktor.
Dinamo Zagreb ist somit kein nostalgisches Relikt einer alten Schule, sondern ein hochentwickeltes, datenbasiertes System. Das Scouting reicht tief in regionale Strukturen hinein, die Ausbildung beginnt früh, und das interne Monitoring kombiniert Videoanalyse, individuelle Trainingspläne und psychologische Begleitung.
Gleichzeitig bleibt die Atmosphäre rau, ehrlich, fordernd. Fehler werden nicht versteckt, sondern öffentlich konfrontiert. Die Spieler wachsen dadurch in einem Klima auf, in dem Druck kein Problem, sondern Alltag ist.
Ein grosser Teil des Verdienstes gebührt unseren Trainern, aber wir haben auch ein gutes Auge für Talente bewiesen – wir können es uns schlicht nicht leisten, einen begabten Spieler zu übersehen. Vor ein paar Jahren wurde unsere Akademie zu einer der sechs besten Jugendschulen Europas gezählt – neben Vereinen wie Barcelona, Inter, Arsenal und Sporting. Wir arbeiten mit einem Jahresbudget von rund einer Million Euro, während die anderen Klubs bis zu acht Millionen zur Verfügung haben.
Romeo Jozak – ehemaliger Direktor Dinamo Zagreb
Dinamo verkörpert damit eine seltene Balance zwischen Struktur und Instinkt. Das System ist diszipliniert, aber nicht starr – organisiert, aber nicht fantasielos. Seine Wurzeln liegen in der alten sozialistischen Schule, doch sein Denken ist längst europäisch-modern. Die Akademie arbeitet nicht mehr mit dem Gehorsam der Vergangenheit, sondern mit der Kohärenz der Gegenwart. Sie schafft den Rahmen, in dem Kreativität wachsen kann. Dinamo hat erkannt, dass Ordnung keine Fessel ist, solange sie Bewegung zulässt. Genau das macht den Unterschied zu vielen mitteleuropäischen Akademien, die Struktur mit Sicherheit verwechseln.
Die heutige Dinamo-Schule steht methodisch näher bei Portugal als bei Moskau: taktisch periodisiert, spielzentriert, kognitiv anspruchsvoll. Doch sie bewahrt das, was ihre Geschichte stark gemacht hat – die Haltung, dass Talent erst dann Bedeutung hat, wenn es Widerstand übersteht.
So ist Dinamo Zagreb zum Symbol geworden für eine neue Generation des Balkan-Fussballs:
technisch-taktisch modern, resilient und international vernetzt – aber mit einer Mentalität, die nie vergisst, woher sie kommt.
Serbien folgt derselben Logik, aber mit einer anderen Energie. Fussball ist dort Ausdruck nationaler Identität und sozialer Aufstiegschance. Die Ausbildung ist elitär, selektiv und stark hierarchisch geführt. Akademien wie Roter Stern oder Partizan Belgrad verbinden sowjetische Strenge mit emotionaler Intensität. Kinder werden nicht erzogen, sondern geformt – mit dem Ziel, Härte und Durchsetzungsfähigkeit zu entwickeln. Wer sich in diesem Umfeld behauptet, kann in jedem taktischen oder psychologischen Kontext bestehen.
Diese Kombination aus Disziplin und Anpassung hat eine paradoxe Wirkung: Sie schafft Spieler, die sowohl gehorsam als auch kreativ sind. Sie lernen, Autorität zu respektieren, aber im Spiel Verantwortung zu übernehmen. Das unterscheidet sie von vielen mitteleuropäischen Nachwuchsspielern, die in geschützten Strukturen sozialisiert werden, in denen Fehler vermieden statt genutzt werden.
Der Balkan zeigt, dass Ausbildung nicht immer aus Perfektion entsteht, sondern aus Notwendigkeit. Sie ist weniger System der Förderung als System der Prüfung – eine Schule der Anpassung, nicht der Absicherung. Fussball ist dort kein Freizeitprojekt, sondern ein Überlebensmodell, ein sozialer Weg nach oben.
Oder wie es Nenad Bjelica einmal formulierte:
Wir arbeiten mit grosser Demut und Klarheit. Unser System ist nicht schön, aber es funktioniert.
In diesem Spannungsfeld zwischen Härte, Hierarchie und Improvisation entsteht der spezifische Charakter des Balkan-Fussballs: robust, instinktiv, technisch präzise und mental gefestigt. Ein Produkt von Disziplin – aber geformt durch Widerstand.

Südamerika – Der Ursprung der Kreativität
Südamerika ist nicht einfach nur eine Region mit vielen talentierten Fussballspielern, sondern ein soziokultureller Raum, in dem Fussball-Jugendausbildung in einem ungewöhnlichen Verhältnis zwischen Spiel, Alltag und Entwicklung steht. Kinder hier haben im Vergleich zu vielen mitteleuropäischen Ländern oft mehr freie Zeit, weniger formalisierte Trainingsstrukturen und intensiveren Zugriff auf spontanes Spiel – das wirkt sich auf die Ausbildung nachhaltig aus. Der Fussball wird nicht nur gespielt, sondern verkörpert. Im aktuellen CIES-Ranking sind 20 Teams aus Argentinien, 12 aus Brasilien, 5 aus Uruguay, 4 aus Paraguay, 3 aus Kolumbien, 2 aus Ecuador, sowie je ein Klub aus Chile, Peru und Venezuela vertreten. Zusammen repräsentieren sie nahezu die Hälfte der globalen Ausbildungselite – eine beeindruckende Dichte an Talent, Stil und Identität.
In Südamerika nehmen Nachwuchsspieler nicht nur klassischen Trainings- und Wettkampfbetrieb wahr, sondern wachsen in Umgebungen auf, in denen Spiel, Strasse, Bolzplatz und Verein nahtlos ineinander übergehen. Die Forschung benennt dieses Phänomen als self-organised learning environment – Lernräume, die sich aus dem Alltag heraus formen.
Wer Fussball lehrt, lehrt auch eine Art, die Welt zu verstehen. Jede Entscheidung auf dem Spielfeld ist eine moralische Entscheidung.
Interview mit Clarín, 2011
In Brasilien beginnt dieser Prozess oft mit dem Futsal, einem komprimierten Spielraum, der Wahrnehmung, Entscheidungsfindung und technische Präzision simultan fordert. Fast jeder brasilianische Nationalspieler der letzten Jahrzehnte – von Ronaldinho bis Vinícius Júnior – nennt Futsal als Fundament seiner Entwicklung. Die enge Spielfläche, das hohe Tempo und die begrenzte Zeit zwingen zur Verkörperung technischer Automatisierung, ohne sie zu mechanisieren. Diese Trainingslogik erzeugt Spieler, die sich im Chaos orientieren können.
Ein Vergleichsstudie etwa zeigt: Brasilianische U-18-Spieler waren in der Kindheit stärker in strukturiertes Training und Futsal eingebunden als spanische Spieler – gleichzeitig aber traten sie später in Wettbewerbe ein und hatten dadurch längere und variablere informelle Spielphasen.
Argentinien dagegen ist das Labor der Interpretation. Die Strassen von Rosario, Córdoba oder Buenos Aires sind soziale Arenen, in denen Kinder früh lernen, Entscheidungen zu kommunizieren, zu antizipieren und Verantwortung zu übernehmen. Das Spiel wird dort zum Spiegel sozialer Hierarchie und Kreativität zugleich. Der argentinische Fussballer denkt, bevor er spielt – eine kulturelle Folge der intellektuellen Durchdringung des Spiels durch Trainer wie Menotti, Bielsa oder Gallardo, die alle das Denken über Fussball zum moralischen Akt erklärten.
Fussball gehört jenen, die aus Notwendigkeit Schönheit machen können.
Marcelo Bielsa
Diese beiden Kulturen – brasilianische Intuition und argentinische Reflexion – produzieren Spieler, die Europa seit Jahrzehnten fasziniert. Sie bringen genau das mit, was die europäischen Akademien zunehmend verlieren: spontane Kreativität, Risikobereitschaft und emotionale Authentizität.
In einem System, das auf Struktur, Kontrolle und taktischer Schulung basiert, werden sie zum ästhetischen Gegenpol – jene, die das Unplanbare verkörpern.
Doch die Popularität dieser Spieler hat auch eine ökonomische Logik. Südamerika ist längst Teil des europäischen Talentmarktes. Die Transfermechanismen haben sich professionalisiert – Netzwerke von Scouts und Agenten durchkämmen jedes Jugendturnier. Brasilianische und argentinische Klubs finanzieren ihre Existenz zunehmend über den Verkauf junger Spieler. Ein 17-Jähriger mit internationalem Potenzial ist heute nicht mehr ein Risiko, sondern eine Kapitalanlage.
Für die europäischen Klubs wiederum ist der Reiz doppelt: sportlich, weil diese Spieler eine Dimension besitzen, die in hochstrukturierten Systemen schwer zu erzeugen ist; wirtschaftlich, weil sie mit geringem Investment hohe Marktwerte versprechen. Endrick, Vini Jr., Garnacho oder Julián Álvarez sind nicht nur Talente – sie sind Assets.
Sportlich gesehen erfüllen sie in Europa eine Funktion: Sie sind kulturelle Beschleuniger. In Mannschaften, die überstrukturiert und taktisch gesättigt sind, bringen sie Instabilität – und Instabilität erzeugt Dynamik. Das erklärt, weshalb dogmatisierte, europäische Spielsysteme gezielt auf südamerikanische Spieler setzen: Sie balancieren das System durch Kreativität.
Ein weiterer Faktor ist Anpassungsfähigkeit. Spieler, die in chaotischen Umgebungen sozialisiert wurden, sind psychologisch resilienter. Sie ertragen Druck, Rotation und Konkurrenz, weil Instabilität Teil ihres biografischen Lernprozesses ist. In dieser Hinsicht ähneln sie den Spielern des Balkans – nur dass ihr Ausdruck weniger defensiv, sondern offensiv, expressiv und emotional ist.
Die frühe Abwanderung ist also kein Zufall, sondern Teil eines globalen Kreislaufs. Südamerika produziert Kreativität, Europa absorbiert sie, strukturiert sie und exportiert sie weiter. Was im Süden als Spiel beginnt, wird im Norden zur Industrie.
Und dennoch: Das südamerikanische Prinzip bleibt unkopierbar. Es beruht auf einer Lernkultur, die sich nicht standardisieren lässt – auf Freiheit, sozialem Chaos und kultureller Identifikation. Vielleicht liegt genau darin das Geheimnis, warum Europa immer kaufen, aber nie reproduzieren kann, was dort selbstverständlich ist: die Fähigkeit, das Spiel nicht zu verwalten, sondern zu fühlen.

Die DACH-Region – Struktur ohne Seele
Es ist bemerkenswert, ja fast erschreckend, wie schwach Deutschland, Österreich und die Schweiz im globalen Vergleich der Nachwuchsausbildung vertreten sind. Im aktuellen CIES-Ranking der 100 besten Akademien der Welt tauchen aus der gesamten DACH-Region lediglich drei Vereine auf: RB Salzburg auf Platz 39, Bayern München auf Platz 54 und der FC Basel auf Platz 98. Für drei Länder, die sich als strukturelle Vorbilder Europas verstehen, ist das ein ernüchterndes Zeugnis. Diese Zahl steht sinnbildlich für eine tiefere Schieflage: Die DACH-Region verfügt über Wohlstand, Organisation und Bildungsqualität – aber sie verliert den Anschluss an jene Länder, die aus Leidenschaft und Überzeugung entwickeln.
Der deutschsprachige Fussball hat seine Ordnung perfektioniert und dabei seinen Instinkt verloren. Deutschland, Österreich und die Schweiz verfügen über ausgeklügelte Akademien, zertifizierte Trainer, Leistungszentren, Evaluationssysteme und pädagogische Konzepte, die auf dem Papier alles richtig machen. Und doch fehlt das, was das Spiel lebendig macht – der schöpferische Zweifel, die Intuition, der Mut zur Unordnung.
In Deutschland stehen die Akademien auf hohem Niveau, zweifellos. Vereine wie Borussia Dortmund, Bayern München oder VfB Stuttgart investieren Millionen in ihre Jugendförderung. Dortmund gilt international als Modellklub, weil dort junge Spieler früh den Sprung in den Profibereich schaffen. Doch ein genauerer Blick zeigt die strukturelle Schwäche: Die Stars, die den BVB in Europa sichtbar machen, kommen selten aus dem eigenen System. Jude Bellingham, Ousmane Dembélé, Jadon Sancho, Christian Pulisic – allesamt importierte Talente, keine Produkte der eigenen Ausbildung. Schalke 04 war einst das Symbol deutscher Nachwuchsförderung, mit einer Akademie, die Neuer, Sané, Özil, Goretzka und Draxler hervorbrachte. Doch seit dem Abstieg 2021 ist die Sichtbarkeit verschwunden, und mit ihr der Effekt, der Jugendträume trägt. Frankfurt, Hamburg, Berlin und München bleiben Metropolen mit Potenzial, doch im Verhältnis zu ihrer Grösse und Dichte produzieren sie zu wenige Spieler, die langfristig auf höchstem Niveau bestehen.
Die Systeme funktionieren, aber sie erzeugen keine Nachhaltigkeit. Spieler schaffen den Übergang in den Profibereich, doch sie verschwinden ebenso rasch, wie sie auftauchen. In den grossen Ligen sind sie vorhanden, aber selten prägend. Der ehemalige DFB-Ausbildungsdirektor Meikel Schönweitz formulierte es einmal treffend:
Wir haben gute Spieler, aber zu wenige, die Spiele entscheiden.
Genau darin liegt das Dilemma – der deutsche Fussball produziert Funktionalität, aber keine Führungsfiguren.
Nach dem WM-Titel 2014 hat sich die deutsche Ausbildung in Selbstsicherheit eingerichtet. Statt weiterzuentwickeln, wurde konserviert. Der Spielgedanke wurde pädagogisiert. Viel wird gesprochen über Werte, über Respekt, über Persönlichkeitsbildung – alles ehrenwert –, aber zu selten über das, was im Kern bleibt: die Entwicklung von Spielern, die das Spiel prägen. Heute redet man in Deutschland lieber über Lernprozesse als über Gewinnen. Doch Fussball bleibt ein Spiel des Risikos, nicht der Rückversicherung.
Österreich ist in dieser Hinsicht der Gegenpol, aber nicht das Gegenmodell. Dort herrscht eine fast technokratische Besessenheit von Intensität, Tempo und Zweikampf. Die Jugendteams von Red Bull Salzburg, Liefering oder dem ÖFB-Zentrum spielen in einem Rhythmus, der physische Dominanz über alles stellt. In kaum einem Land Europas wird so stark über Sprintmetriken, Umschaltgeschwindigkeit und Laufdistanz definiert. Es ist Fussball als Physiologie – dynamisch, modern, aber letztlich eindimensional. Die Idee ist, den Gegner zu überrennen, nicht zu überlisten. Österreich hat eine Identität geschaffen, aber keine Vielfalt.

Die Schweiz wiederum bewegt sich in der Illusion, ihr System sei modern, dabei ist es in weiten Teilen wohl wettbewerbs-untüchtig geworden. Das 2014 eingeführte Footeco-Programm sollte eine nationale Reform sein, eine Antwort auf die Masse an Jugendlichen und das Ziel, breitere Talentförderung zu betreiben. Besonders die grossen Klubs haben sich in den letzten Jahren von der eigentlichen Idee der Talentförderung aber entfernt. Der Fokus verlagerte sich schleichend – weg vom Spieler als Gestalter, hin zum Spieler als Marktobjekt. Man suchte nicht nach Fussballern, sondern nach Profilen. Körpergrösse, Geschwindigkeit und Athletik wurden zu den neuen Prädikaten des Marktes. Der Begriff „Potenzial“ wird nicht mehr im fussballerischen Sinn verstanden, sondern eben halt biologisch – dabei verfügt die Schweiz über viele junge Kicker die das Potenzial mitbringen, sie müssen jedoch als langfristiges Projekt betrachtet werden. Das kollektive Denken, das gemeinsame Lesen und Erkennen von Spielsituationen, ist vielerorts somit in den Hintergrund gerückt. Stattdessen dominiert nun die Idee des messbaren Fortschritts – man trainiert, um Fortschritt zu sehen, nicht, um Fussball zu verstehen.
Auch die geschlossene Struktur der Trainerausbildung trägt ihren Teil dazu bei. Der Zugang zur A-Lizenz ist restriktiv, die Plätze begrenzt, das System zirkulär – es züchtet sich selbst. Neue Stimmen, junge Trainer, innovative Denker bleiben aussen vor. Statt Dynamik entsteht Stagnation. In fast jeder grösseren Nachwuchsabteilung sitzen dieselben Namen, dieselben Methoden, dieselben Perspektiven. Es ist ein Karussell ohne Richtung.
Ein strukturelles Problem bleibt auch die gesellschaftliche Ambition: In der Schweiz soll jeder Spieler gleichzeitig Pianist, Gymnasiast und Profi sein. Diese akademische Doppelbelastung führt dazu, dass Fussball nicht als Berufung, sondern als Option betrachtet wird. Die Angst, zu scheitern, überwiegt den Drang, zu wachsen.
Die Schweiz ist ein Land der Balance – wohlgeordnet, verlässlich und diszipliniert. Doch genau diese kulturelle Balance ist im Fussball zur Bremse geworden. Man will überall gut sein, aber nirgends anecken. Leistung soll kontrollierbar, Erfolg planbar, Entwicklung sicher sein. Das System reflektiert die Gesellschaft: strukturiert, fleissig, aber konfliktscheu.
In einem Land, das Wohlstand zur Norm erhoben hat, wird auch der Fussball rational betrieben. Kinder sollen nicht scheitern, Eltern nicht zweifeln, Trainer nicht riskieren. Jeder soll Chancen haben – aber bitte ohne Druck, ohne Bruch, ohne Unbehagen. Das Resultat ist ein Fussball, der solide ist, aber selten mutig.
Ein Fussball, der nicht scheitern darf – und deshalb kaum über sich hinauswächst. Sie produziert gute Spieler, aber kaum charismatische. Sie bringt stabile Karrieren hervor, aber keine Biografien, die etwas verändern. In einem Land, das gelernt hat, Wohlstand zu verwalten, wurde auch das Talent zu einem verwalteten Gut.
Vielleicht liegt darin das eigentliche Paradox: Je sicherer ein System wird, desto weniger inspiriert es. Der Schweizer Fussball braucht weniger Perfektion, dafür wieder ein bisschen Unruhe – den Mut, nicht in allem gut, sondern in etwas grossartig zu sein.
Und doch gibt es Ausreisser, die beweisen, dass Talent seinen Weg findet, wenn man es lässt. Marc Giger ist ein solcher Fall. In der Schweiz aussortiert, galt er in den Nachwuchsleistungszentren als «nicht systemkompatibel“.
Zu frech, zu eigensinnig, zu wenig formbar für die Schweizer Ordnung. Gleichzeitig war er technisch-intuitiv herausragend, in manchen Momenten sogar brillant – einer jener Spieler, die auf engem Raum Lösungen finden, die man nicht lehren kann. Er war ein Regelbrecher, charakterlich kantig, manchmal schwierig, aber mit einer tiefen, fast obsessiven Liebe zum Fussball.
Über Umwege – den FC Linth 04, den FC Paradiso, später den FC Schaffhausen – kämpfte er sich zurück, Schritt für Schritt, ohne konkrete Aussichten. Heute spielt er beim belgischen Meister, bestreitet Champions-League-Partien und verkörpert damit jene Energie, die der Schweizer Fussball so schmerzlich vermisst: Eigenwilligkeit, Beharrlichkeit, den Mut, anders zu sein.
Marc Giger hat das System nicht genutzt – er hat es überlistet.

Deutschland, Österreich und die Schweiz haben Fussball rationalisiert – und ihn dadurch entzaubert. Sie haben Systeme gebaut, aber keine Geschichten. Ihre Ausbildung ist präzise, aber blutleer. Sie bringen Spieler hervor, die laufen, denken und funktionieren – aber selten solche, die führen, fühlen und inspirieren.
Wir müssen wieder lernen, das Spiel zu lieben, nicht nur es zu verstehen
Jürgen Klopp
Epilog – Zwischen Struktur und Seele
Das aktuelle CIES-Ranking spiegelt ein faszinierendes Muster wider: Wohlhabende Länder dominieren die Infrastruktur, aber nicht zwangsläufig die Inspiration. Von den 100 besten Akademien der Welt stammen rund 50 aus Europa und 45 aus Südamerika, doch die Spitze wird nicht durch Kapital bestimmt, sondern durch kulturelle Klarheit. Benfica, Sporting, Dinamo Zagreb, River Plate, Boca Juniors und der FC Barcelona zeigen, dass Ausbildung dort erfolgreich ist, wo Haltung wichtiger ist als Hierarchie.
Spanien, insbesondere Barcelona, bleibt das Referenzmodell für kohärente Entwicklung inmitten von Reichtum. La Masia steht für eine Philosophie, die nicht auf Perfektion, sondern auf Kontinuität beruht. Spieler werden dort nicht produziert, sondern geprägt. Sie lernen nicht bloss Technik, sondern Bedeutung – ein Wissen, das über Taktik hinausgeht. In Portugal und Kroatien wiederum entstehen Talente aus klaren, mutigen Strukturen, die Spielideen als nationale DNA begreifen.
Wir müssen nicht Spieler wie in Brasilien, Uruguay oder auf dem Balkan hervorbringen – diese Geschichten gehören zu anderen Kulturen, anderen Realitäten. Aber wir können verstehen, warum dort so viele besondere Spieler entstehen. Sie wachsen nicht im Schatten von Systemen auf, sondern im Licht von Vertrauen. Trainer erkennen etwas, bevor es sich messen lässt. Sie entdecken den Rhythmus eines Spielers, seine Art, Räume zu lesen, seinen Mut, Fehler zu riskieren.
In der Schweiz und in Mitteleuropa fehlt genau dieser Blick. Wir haben Programme, aber kein Auge. Wir fördern Strukturen, aber selten Intuition. Dabei beginnt wahre Ausbildung dort, wo man nicht nach Norm, sondern nach Gefühl urteilt. Technisches Talent und Entscheidungsintelligenz entstehen nicht durch Wiederholung, sondern durch Resonanz – durch Trainer, die verstehen, wann sie eingreifen und wann sie loslassen müssen.
Der Charakter eines Spielers ist kein zu formendes Objekt, sondern eine Energie, die gelenkt, aber nicht gezähmt werden darf. Fussball ist kein Curriculum, sondern eine Sprache, und wer sie sprechen will, muss lernen, die Akzente zu hören.
Vielleicht ist das die nächste Entwicklungsstufe des schweizerischen und deutschsprachigen Fussballs: weniger Kontrolle, mehr Beobachtung. Weniger Lehre, mehr Erkenntnis. Weniger Angst, mehr Vertrauen.
Denn Systeme bilden Spieler – aber nur Menschen entdecken Talente.


